Das Planetenschloss 29
Auf dem Weg nach unten verlor Lori niemals das Zeitgefühl. Seondeok ließ eine holographische Karte der Gewölbe mitschweben, an deren Rand ein Timer mitlief. Aber die Zahlen verloren bald jede Bedeutung. Die drei schlidderten Abhänge hinunter, zwängte sich durch Spalten, die die Mecha einige Male mit gezieltem Laserfeuer verbreiterte, durchschwammen kalte Flüsse und überwanden dank Seondeoks nimmermüden Armen senkrechte Felswände. Und stets wusste Lori, wie viele Minuten und Stunden vergangen waren, ebenso wie sie wusste, wie viele Kilometer sie bereits zurückgelegt hatten, und wie weit es bis zum Durchgang ins Schloss noch war.
Lori starrte auf die pulsierenden Punkte in der schwebenden Abstraktion ihrer Umgebung und verfolgten den Weg ihrer Abbilder durch den zu Punkten und Linien verdichteten Zahlenraum. Zu Beginn hatten sie alle einen Angriff erwartet, irgendeine unbekannte Gefahr, die sich ihnen aus dem Pilzwald entgegenschnellen würde. Doch schon bald verwandelte sich diese Sorge in ein zerstreutes Gedankenspiel, das Lori nur dazu diente, die Zeit bis zum nächsten Blick auf die Zeitanzeige zu überbrücken.
Blinde Mutanten mit sporenspuckenden Schwammmäulern hätten es sein können, Lichtschlangen, die mit Wellenmustern giftiger Farben angriffen, verstandesbrechende Psychobomben des Myzel-Kollektivs oder Viren, die seit Jahrmillionen in diesen Kavernen eingeschlossen waren, und von ihrem ursprünglichen Zweck, die Lebewesen dieses Planeten einer beschleunigten Evolution zuzuführen, längst in den Irrsinn mutiert waren, und sie alle in blasenwerfende Geschwüre verwandelt hätten. Nichts davon geschah. Nach drei Stunden, dreiundvierzig Minuten und sechzehn Sekunden tauchte Lori aus einem Gedankenmeer auf, in dem der innere Blick von Kreatur zu Kreatur getrieben war, und landete wie durch einen Sturz aus großer Höhe wieder im Körper, hinter den Augen, in Armen und Beinen.
Sie standen am Rand eines unabsehbaren Abgrunds. Er verschwand zu beiden Seiten in der Finsternis. Weder der Boden noch die andere Seite ließ sich mit Seondeoks Schweinwerfern erkennen. Herr Terramar befahl ungeduldig einen Scan, doch die Mecha schnarrte nur. „Negativ“, befand sie. „Das Gestein enthält Partikel eines unbekannten Metalls, wahrscheinlich nicht von dieser Welt. Ursprung kann ich nur vermuten. Durch Meteoriteneinschlag hier gelandet, eine Möglichkeit, obwohl die umgebenden Schichten nicht danach aussehen. Oder künstlich hier eingebracht. Von wem und warum kann ich nicht sagen. Das alles hier ist älter als die Herrschaft der Alten über den Planeten. Ist auch egal. Ergebnis ist, ich weiß nicht, wie weit es nach drüben ist. Oder was da unten los ist.“
Herr Terramar starrte mit unbewegter Miene über den Abgrund. „Vielleicht hat sich deshalb niemand aus dem Schloss um diesen Zugang gekümmert. Weil man dort weiß, das dieser Weg abgeschirmt ist.“ Er drehte sich zu der Mecha um. „Und das fällt dir erst jetzt auf? Hast du nicht vorhin das ganze Höhlensystem gescannt? Ich dachte, wir gelangen an altes Wasser, das wir durchqueren müssen.“
Seondeok quietschte und bewegte leicht den Torso, sodass es wirkte, als zuckte sie die Achseln. „Ich weiß, dass irgendwo auf der anderen Seite die Senke mit dem Wasser kommt“, sagte sie. „Aber den Abgrund hat der Scan nicht erfasst. Aus den bekannten Gründen.“
Herr Terramar zog die Augenbrauen zusammen. „Aber dass da etwas ist, das du nicht erfassen kannst, ein blinder Fleck auf der Karte, das hast du doch wohl gewusst?“
Wieder die Imitation eines Achselzuckens. „Wer sieht schon die eigenen blinden Flecken, Herr?“
Lori schaute auf. Hatte die Mecha den alten Ritter überhaupt schon einmal als Herren angesprochen?
Dem Kwan-Ritter schien das nicht aufzufallen. Er lachte auf, aber es klang nicht fröhlich. „Ich erwarte keine philosophischen Diskurse von dir, Seondeok. Ich brauche Informationen.“ Herr Terramar seufzte. „Gut. Jetzt stehen wir hier. Das können wir nicht mehr ändern. Wenn ich die Karte richtig verstehe, gibt es auch keinen anderen Weg.“ Er hob die Stimme leicht fragend an, und Seondeok stieß ein abwehrendes Brummen aus. „Schön. Dann müssen wir rüber.“ Er machte Anstalten, in die Kapsel zu klettern, doch Seondeok wich zurück. „Ich kann euch nicht beide zugleich tragen, wenn ich fliegen soll.“
„Warum nicht?“ Terramar klang nun ernstlich verärgert. „Du könntest ein Vielfaches unseres Körpergewichtes tragen. Lass mich einsteigen.“
„Natürlich könnte ich das.“ Seondeok legte die Klaue auf die Abschirmung der Kanzel. „Aber meine Messdaten zeigen, dass die Einsprengsel des unbekannten Metalls eine Strahlungsfeld aufbauen, das die Leistung meiner Fusionsmotoren behindert. Es schwächt mich, kurz gesagt.“
„Und was heißt das jetzt?“
Lori räusperte sich. „Es heißt, dass sie uns nacheinander bringen muss.“
Herr Terramar schüttelte den Kopf. „Kommt gar nicht in Frage. Wir wissen nicht, was sich hier herumtreibt. Weder Lori noch ich sollten alleine bleiben, während du die andere Person fliegst.“
„Seondeok sollte nicht alleine fliegen“, sagte Lori leise. Die anderen schienen sie nicht gehört zu haben.
„Dann bleibt uns nur klettern“, schnarrte Seondeok. Sie stellte ein Lichtbild des Abgrunds vor ihnen in den Raum. „Allerdings nimmt die Feldstärke in der Tiefe immer mehr zu. Da ich nicht ermessen kann, wie tief der Abgrund ist, weiß ich nicht mit Sicherheit, ob und wann meine Kräfte mich völlig verlassen. Im schlimmsten Fall stürze ich irgendwann. Meine Außenhülle kann starke Krafteinwirkung überstehen. Aber auch das gilt nicht unbegrenzt. Es ist unwahrscheinlich, aber leider nicht unmöglich, dass ich durch einen Sturz unwiederbringlich beschädigt werde. Und ihr müsstet aus eigener Kraft klettern. Polymerseile habe ich an Bord. Ihr könntet euch an mir sichern und gelegentlich auf mir rasten. Aber wenn ich falle, muss ich die Sicherung lösen. Ich kann das schnell genug, aber ihr wärt dann alleine an der Wand. Wenn alles gut geht, müssen eine Dunkelheit durchqueren, die ich weder scann noch weit mit meinen Scheinwerfern erhellen kann. Und auf der anderen Seite wartet en Aufstieg unter denselben Bedingungen. Im besten Fall. Genau genommen wissen wir nicht einmal, wie die gegenüberliegende Wand aussieht.“
„Das klingt nicht gut“ sagte Lori.
„Es gibt keine andere Möglichkeit.“ Herr Terramar streckte sich. „Gehen wir es an.“
Vierundzwanzig Minuten später machten sie sich an den Abstieg ins Dunkel. Seondeok kletterte vorneweg, Lori und der Ritter folgten, mit Seilen an der Mecha gesichert. Loris Hände und Füße ertasteten große Mulden und weit herausragende Felsnasen. Die Luft war kalt und klar. Seondeoks Scheinwerfer bildeten eine enge Lichtblase um sie. Außer dem Geräusch herabstürzender Steinchen war nichts zu hören. Lori roch den eigenen Schweiß und Seondeoks Öl. Bald hörte sie den eigenen Atem als regelmäßiges Keuchen.
Sie spürte Seondeoks Innehalte als Ruck am Seil. „Seondeok?“ Die Stimme des alten Ritters klang gepresst. „Was ist?“
Die Mecha zirpte. „Da ist irgendwas.“
Lori schluckte. „Unter uns?“
„Nein. Es kommt von oben.“