Das Planetenschloss 26
Was wird Lori damit anfangen?
Lori denkt den Satz wieder und wieder. Und spürt dabei: Die Antwort wird „ja“ sein. Warum? Es gibt Gründe. Der alte Ritter hat den Vogel seiner Mecha zugeführt. Hat Lori erst liegengelassen, dann versklavt. Weil er sich von ihr etwas erhofft hat, etwas in ihr gesehen hat. Etwas, das er vielleicht auch seiner mechanischen Begleiterin zuführen möchte? Seinem Orden, sich, dem Kwan, dem er dient? Und wer weiß, was er mit Lori getan hat, als Lori ohnmächtig war? Als etwas, das Wort, das Lori sein soll, Fleisch und Blut und Gedanken bewegt hat, um mit brennenden Augen die Welt umzuschichten. Auch Seondeok hat Gründe, die Lori nur ahnen kann. Dass sie an einen Ritter gebunden ist, der sie zum Patchwork seiner Abenteuer macht, ohne dass sie für sich deshalb stärker würde. Sie trägt seine Welt mit sich herum und ihn durch die Welt, wenn er es wünscht.Lori fragt nicht, was als Fragen jetzt im Raum steht. Warum gleich Mord? Warum nicht Flucht? Oder weniger dramatisch: Abkehr. Ist die Mecha nicht eigentlich dem Ritter längst überlegen? Durch Maschinenkraft und Bewaffnung ohnehin, durch Rechen- und Speicherfähigkeit zumal? Durch all die Wesen, die sie absorbiert hat? Selbst, wenn dieses Absorbieren lediglich bedeutet: In sich abgelegt haben, als Muster, als Echo, als Plan, nicht: Mit der Bandbreite der Fähigkeiten in sich aufgenommen. Was, müsste gefragt werden, bindet die Mecha an ihren Herren? Der Schwur eines Knappen, die Unterwerfung einer Maschine unter einen Schlüssel oder ein Codewort? Die Antwort steht im Raum, der Loris Gedankenwelt ist, dass es der Hass sein könnte, dass die Mecha nicht gehen kann, ohne die Geschichte abzuschließen, die sie sich mal stumm, mal offen, erzählt haben über das, was zwischen ihnen geschieht. Den Ritter zu ermorden ist die Deutung, die Seondeok dieser Geschichte geben will, und die sie bis zu ihrem Anfang umschreiben wird vom gewaltsamen Ende her: Es war stets eine Geschichte der Gewalt, sodass Seondeok gar nichts übrig blieb, als sie mit Gewalt zu beenden – und erst dann ist sie zuende.
In Gedanken ist Lori bereits in diese Fassung der Geschichte gewechselt. Loris Antwort auf Seondeoks Frage ist nicht das Ergebnis einer Abwägung, Erklärung, rationalen oder emotionalen Gleichung. Im Wirbel der Gedanken findet kein Für und Wider statt. Eine Geschichte kommt an ihr Ende. Die Gedanken greifen aus und greifen nach den Gründen, die sie finden können, und nehmen auf diesem Weg auch die Form von Seondeoks Gedanken an, aber das kommt später, nachdem der Pfad der Geschichte bereits abgeschritten ist, und dieser Pfad rückwirkend mit Wörtern und Sätzen ausgebaggert und gestützt werden muss, die es der Geschichte, die Lori von sich selber weiß, erlauben, ihre eigene Form erst anzunehmen.
Dies alles denkt Lori nicht. Lori denkt: Ja. Und dann noch ein bisschen drumherum. Die Gedankenpartikel schwirren, und die Wolke fällt doch immer wieder auf den dichtesten Punkt zurück: Ja. Summ, summ, summ. Ja.
Und Lori denkt auch: Was in mir, in dieser Gedankenwolke, ist der Name, den die Alten in mir versteckt haben, dessen Mantel ich bin? Oder hockt der Name irgendwo außerhalb der Wolke und schweigt, weil er gar nicht zu den Dingen gehört, die reden können? Weil er sich nicht selber spricht?
Inzwischen gehen sie weiter. Lori taucht auf aus der Gedankenwolke, die Lori ist, als die Füße vor einem Tor anhalten. Sprühnebel legt sich auf Loris Gesicht, auf Seondeoks Metall. Lanzen wie Schimmer gebrochenen Lichts treiben beiseite und geben den Weg frei. Die Gliedmaßen aus Fleisch und Blut, aus Metall und Strömen verlieren ihre Schwere und werden fast ins Innere geweht. Aus hohen Fenstern, kaum noch fest im festgebannten Tropfenwirbel des Schlosses, lugen Gesichter, prickeln, fließen auseinander und ziehen Licht und Wasser zurück in die Schatten. Lastende Stille liegt über allem. Sehr fern, nicht hier, pfeift ein Wind.
Sie betreten eine Halle, deren Decke und Wände ein Schleier vor Blau und Sonne sind, ein Blinzeln in der schon sehr dünnen Luft des Planeten. Aus den Augenwinkeln sehen sie Luftsäulen mit Geschmeiden aus zerfallenden Konfigurationen von Feuchte und Wind, mit Schleppen aus Elementenskizzen, die gleich wieder verworfen werden.
Die Kaiserin der Wolkenleute ist mal da und mal nicht, je nach dem, wie sie den Kopf neigen. Aus Seondeoks Speicher sucht Herr Terramar die gespinstigste Sprache, einen Dialekt von Waldleuten mit Beinen aus Licht, die in Schallnetzen hausen, und das Kratzen eines Krebswesens, das auf viele Siliziumbahnen verteilt, einige Quadartkilometer Meeresboden einnimmt, und die kaum noch behauste Abwesenheit von Geistern toter Metropolen auf Welten, die aus allerschwerstem Gasglas gemacht sind. Ein Tropfen entsteht, der in der drückenden Stille allgegenwärtiger Auflösung zerstäubt und ein zurückhaltendendes Muster bildet.
Die Kaiserin versteht den Gruß, den Bericht von der Pyramide, den Tod des Alten und seine letzte Bitte. Ohne Bewegung, ohne Ort, werden sie am Rand eines Brunnens wieder zusammengefügt. Ein träumerisches Auseinanderdriften der Böden, die nichts tragen: eine Tiefe. Rund schimmert der Schatz des Schlosses und seiner Bewohner, die Teil seiner Substanz sind. Altes Wasser. Das Herrschaftsrecht dieser letzten ihrer Art: Nicht abzuregnen auf den kargen Planeten. Und in der Höhlung ihres Trutzraums aus beinahe Nichts, das älteste Wasser. Geschützt als Wolke mit größten Abständen zwischen den fadenscheinigen Teilen. In das Webwerk dieser träge tanzenden Tropfen ist die Geschichte der Wolkenleute eingeschrieben als Fließteppich in gestreuter Form, zwischen dessen Fädchen beliebige Licht- und Sichtbeziehungen möglich sind. Das Gleißen dieses Hortes ist der Wille, der auf allem glänzt. Wir zerfallen nicht, wir schlagen uns nicht nieder, fällen uns nicht aus. Das Gespinst von Geschichte in zartester Spitze: Es gibt uns als uns.
Dort hinein, in die Tiefe geht der Weg. Herr Terramar taucht voran in den Brunnen. Seondeok und Lori hinterher.
Sie lösen sich auf. Metall, Blut, das Kwan, Gedanken, Gefühle treiben umeinander und formen zögernd, gefiltert durch das alte Wasser der Wolkenleute, einen Zusammenhalt, der kaum, aber doch merklich, eher etwas ist, als dass er nichts ist.
In dieser oszillierenden Gemeinsamkeit sinkt die Wolke tiefer.
Von dem Wort, das Lori auch sein soll, keine Spur. Und doch setzt sich in der zum Planeten sinkenden Wolke etwas durch, das nicht Seondeok oder Terramar ist. Die Metallspritzer bekommen etwas Lorihaftes, die Kwan-Essenz etwas Kindliches. Ein Kampf ist das nicht. Ein Fluss im Fließen versammelt mehr Tropfen an sich als die anderen und gewinnt an Breite.
Unterdessen gelangt der Racheengel schwer versehrt und brennend am Tor des Wolkenschlosses an, hebt schreiend Schwert und Morgenstern, und wird, von zahllosen Tropfen und Lichtbrechungen umweht, gelöst, zur Wolke gemacht und zerstäubt.