Das Planetenschloss 30

Das Planetenschloss 30

Tiefer und tiefer stiegen sie in die Dunkelheit hinab. Seondeok erklärte, dass sie die Scheinwerfer abschalten müsse, um Energie zu sparen. Von da an schimmerte nur noch das holographische Bild der nächsten Umgebung in der Luft, das die Mecha aus den optischen Daten zusammensetzte, die sie dank Restlichtverstärkern empfing. Die magischen und energetischen Messgeräte wurden nicht nur durch das mysteriöse Gestein lahmgelegt, ihr Betrieb hätte die Menschmaschine auch zu viel Kraft gekostet. Bei jedem Lösen und Ansetzen der Beine, bei jedem neuen Prankengriff drang ein Stöhnen aus ihrem Brustkorb, wie es Herr Terramar und Lori noch nie von ihr gehört hatten.

Dabei hatten sie selbst schon genug Mühe, den Abstieg zu bewältigen. Zwar bot die Felswand genügend Vorsprünge und Mulden, um sich jederzeit abzustützen. Sprünge oder waghalsiges Überwinden einer längeren glatten Partie waren kaum einmal nötig. Aber die Dunkelheit zerrte an den Nerven, und die Verbindung mit der Gefährtin, die offenkundig am Ende ihrer Kräfte war, trug nicht zum Sicherheitsgefühl bei. Immer war Seondeok die Starke gewesen, Haus, Datenbank, Geschütz und Panzer in einem. Jetzt, wo es ins Unbekannte ging, fiel sie aus. Der Ritter und das Kind sprachen kein Wort darüber, aber jeder für sich spürten sie, wie die Lähmung von der Magengrube in Arme und Beine ausstrahlte. Terramar griff auf Atemübungen der Kwan zurück. Das leise Summen zerrte zusätzlich an Loris Nerven. Sollten sie stürzen, so wäre er gewiss in der Lage, mithilfe der Kwan-Energie in den Federfall überzugehen.

Und Lori? Das Kind biss die Zähne zusammen und versuchte, sich ganz und gar aufs Klettern zu konzentrieren. Die seltsamen Kräfte, die auf dem Weg durch die Pyramide in ihm erwacht waren, kamen und gingen , ohne dass es Einfluss darauf hatte. Einzig, dass lebensbedrohliche Gefahr ein Auslöser war, schien festzustehen. Lori hoffte, dass ein Sturz dieses Etwas wachrütteln würde, das der Wächter der Alten im Garten als „Wort des Lebens“ bezeichnet hatte. Ein Sturz – oder die Ankunft des Wesens, das ihnen folgte.

Jedes Mal, wenn sie kurz innehielten, um Luft zu holen und etwas aus Seondeoks Vorräten zu trinken, hörten sie das Schaben und Kratzen, das von oben, aus der Finsternis, Stück für Stück näher kam. Steinchen rieselten auf sie herab. Seondeoks Datenbanken funktionierten inmitten des schwächenden Gesteins nur eingeschränkt, und gaben keinen Anhaltspunkt darüber, was ihnen auf den Fersen sein mochte. Herr Terramar sandte einige Male seinen Geist aus, sog aber nur scharf die Luft ein, bevor er die Gefährten gleich darauf wieder anblickte. „So etwas habe ich noch nie gespürt“, sagte er leise. „Es stößt mich zurück. Ich bekomme kein klares Bild. Nur, dass es mächtig sein muss, und bewandert in den Wegen des Kwan, so viel weiß ich. Allerdings scheint es genau so klettern zu müssen, wie wir. Hätte es eine andere Möglichkeit, sich uns zu nähern, hätte es das schon getan. Immerhin gibt es keine bessere Stelle, um uns anzugreifen, als hier, wo wir hilflos in der Wand hängen. Wir müssen weiter. Vielleicht ändern sich die Bedingungen am Boden oder weiter drüben, in Richtung der anderen Seite.“

Sie mühten sich weiter in die Tiefe. Niemand stellte die Frage, was sie tun sollten, falls es keine andere Seite gab, oder sich die Bedingungen nicht besserten oder gar verschlechterten. Würden sie Seondeok zurücklassen, wenn es hart auf hart kam? Und hätten Terramar und Lori ohne sie überhaupt eine Chance, das alte Wasser zu durchqueren, den Eingang zum Schloss zu betreten und dort zu bestehen?

Der Moment des Absturzes kam unvermittelt. Seondeok ächzte, ihre Gelenke quietschten, die Pranke griff vernehmlich ins Leere. Alles hing in der Schwebe, als überlegte der Abgrund kurz, ob er sie wirklich verschlingen sollte. Dann dröhnte das Heulen überreizter Motoren aus Seondeoks aufgerissenem Maul. Sie griff nach der Luft und fand keinen Halt. Lori und Terramar spürten, wie die Sicherheitsleinen sich strafften, und dann durch die Luft peitschten, nachdem die Mecha sie gelöst hatte, um die Gefährten nicht mit in die Tiefe zu reißen. Die beiden spannten jeden Muskel an, um in der Wand zu bleiben. Lori wandte den Kopf. Seondeoks Gesicht wurde kleiner und kleiner, die Pranke stieß ein letztes Mal vor – dann hatte die Leere sie verschluckt wie ein bodenloses Meer.

Keuchend hingen die beiden Menschen am Fels. Sie hörten den eigenen Atem, rochen den eigenen Schweiß. Sie warteten auf den Aufprall.

Es kam keiner.

Lori zitterte am ganzen Körper. Nicht fallen, nicht fallen. Der Gedanke war alles, was das Kind hielt, aber er brachte es auch an den Rand der Erkenntnis, dass das Fallen nur eine Frage der Zeit war.

„Ich komme zu dir.“ Herrn Terramars Stimme drang aus der Schwärze unter ihr. „Halt aus, Lori. Das Kwan wird uns retten. Ich bin gleich da.“ Ein Summen schwoll an, das Lori mehr als Vibration in der Felswand wahrnahm, als dass sie es hörte.

Nimm meine Hand. Die Stimme erklang direkt in Loris Kopf. Metallisch, sirrend und wie aus mehreren Stimmen zusammengesetzt, die sich kaum hörbar, aber irritierend gegeneinander verschoben.

Vorsichtig dachte Lori zurück. Die innere Stimme, die sonst die Gedanken des Kindes formulierte, richtete sich so selbstverständlich nach außen, als hätte es sein Leben lang nichts anderes getan. Wo bist du? Ich kann dich nicht sehen.

Meine Hand wird da sein, wenn du danach greifst. Lass einfach los.

„Lori?“ Terramars Stimme drängt sich in den geistigen Dialog. „Lori, da ist irgendwas. Ich glaube, dieses Ding … es ist nahe. Bleib, wo du bist.“

Er kann dich nicht retten. Ich kann es. Du weißt es, Wort der Alten.

Nein. Lori presste das Gesicht in den rauen Felsen. Ich kenne dich nicht. Woher soll ich wissen, dass du mich nicht in eine Falle lockst?

Du weißt es, weil deine Ankunft all das hier erst erschaffen hat. Du hast es gespürt. Du hast die Zeit an diesen Ort gebracht. In dem Moment, als du ihn betreten hast, hat es ihn immer schon gegeben. Und auch ich wurde erschaffen, als etwas, das seit Millionen von Jahren hier unten lebt, lange bevor du in die Welt tratest.

Schwindel erfasste Lori. Was die Stimme sagte, ergab kaum einen Sinn, und doch wusste das Kind, wusste etwas in ihm, dass es die Wahrheit war.

„Lori!“

Terramar schrie auf.

Lori ließ los und warf sich mit ausgestreckten Händen ins Leere.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.