Das Planetenschloss 34
Sie wandern durch die Dunkelheit. Die einzige Lichtquelle sind glimmende Punkte im Staub, der den Boden bedeckt. Seondeoks Restlichtverstärkung reicht gerade aus, um ihnen den Weg zu weisen. Sie binden sich mit einem Polymer-Seil aneinander, um sich nicht zu verlieren. In regelmäßigen Abständen sagt die Mecha ihnen durch, wie viel Zeit sie bereits hier unten verbracht haben. Nicht, dass das eine Rolle spielen würde, aber die Gleichförmigkeit der Umgebung, die monotone Bewegung und die Unmöglichkeit, das Ziel, die gegenüberliegende Wand der Schlucht zu erkennen, zerrt an den Nerven. Es hilft, ein Gefühl für das Fortkommen zu behalten. Mit jeder neuen Ansage ist etwas geschafft, auch wenn nicht ganz klar ist, was. Die Mecha schnarrt halblaut, als dürfte die Ruhe des Abgrunds nicht gestört werden.
Die Schritte fallen gedämpft. Selbst die Metallstiefel der Mecha und Netimis Erudit-Fühler sinken fast lautlos in den pulvrigen Untergrund. Wölkchen steigen auf, sinken zu Boden und bedecken ihre Spuren sofort wieder. Doch je länger die Gruppe sich vorwärts arbeitet, desto dichter wird der Staubschleier, der sie umweht. Sie spüren den Dunst eher, als dass sie ihn sehen. Bei jedem Atemzug gelangt etwas davon in Mund und Nase und hinterlässt einen stumpfen, bitteren Geschmack. Die leuchtenden Pünktchen tanzen jetzt vereinzelt auch um sie herum. Sie scheinen sich unabhängig vom Rest des herumwirbelnden Staubs zu bewegen.
Lori strengt sich an, in der Dunkelheit etwas zu erkennen, tappt voran, während das Seil am Bauch zerrt. Seondeoks hoch aufragende Gestalt, die sie anführt, ist nur als schattenhafter Umriss zu erkennen. Terramars schmaler Rücken gleitet vor Lori durch die Schwärze. Hinter sich spürt das Kind Netimis Kälte. Die Lichtpünktchen trudeln rascher umeinander und gewinnen einen Vorsprung gegenüber dem trägen Gedankenkreisen in Loris Innerem. Bilden sie Muster? Fliegen sie zueinander, wispern sie sich etwas zu, bevor sie sich wieder trennen? Dort, wo sich die Pünktchen ballen, entstehen Lichtinseln, in deren schwachem Schein Lori sekundenlang etwas von der Umgebung erkennt. Ranken steigen aus der tiefen Staubschicht, drehen sich umeinander, zerfasern, und formen im Auseinanderreißen phantastische Formen.
„Sechzehn Units, acht Mikrons.“ Seondeoks Maschinenflüstern. Tapp, tapp, tapp, machen ihre Füße und Fühler. Eine neue Lichtinsel. Lori schreit auf. Staub füllt Mund und Nase. Lori hustet, bleibt stehen, krümmt sich, wird von Seondeok und Terramar mitgerissen. Netimi prallt gegen den Rücken des Kindes und federt mit dem elastischen Körper zurück. „Ein Gesicht!“ Lori verschluckt die Worte, stößt sie noch einmal hervor. „Ein Gesicht! Da war jemand … etwas!“
Der Protest der anderen erstickt, als die Fratzen aus dem Dunkel heranstürmen. Aufgesperrte Mäuler, Augenlöcher, die Nasen Schlitze, Knochen, die ausbleichen und verwehen. Die geisterhaften Angreifer bestürmen sie lautlos. Die Marschreihe zerfällt in Zappeln, Umsichschlagen, Stolpern. Seondeok geht knirschend in die Knie. „Meine Gelenke … etwas dringt in mich ein … ich kann mich nicht mehr … Staub … überall Staub … meine Speicher!“ Das letzte ist ein Schrei, der vom Staub verschluckt wird.
Sie alle husten und würgen jetzt. Lori sieht aus brennenden Augen, blinzelnd, tränend, wie Herr Terramar am Seil nestelt, um sich zu befreien. Auch Loris Finger tasten nach dem Polymer, reißen daran, streifen die Schlinge über Schultern, Hals, Kopf. Weil die anderen es genau so verzweifelt probieren, reißt das Material die Haut auf und droht, Lori zu würgen. Endlich geschafft. Lori fällt voran, fängt sich, rennt, indem die Hände über das Gesicht wischen.
Tief in sich, dort, wo sich das ballt und wartet, was das Wort der Alten ist, erreichen Lori Stimmen. „KALT … UND STILL … GEBT UNS … HERZSCHLAG … BLUT … GEDANKEN … ZEIT DIE VORWÄRTS LÄUFT … LEBEN“ Lori begreift. Es sind Tote. Hunderte, tausende, unschätzbar viele Tote, die sich hier unter verlaufen haben und zu Staub zerfallen sind. Wie lange steht das Schloss hier schon? Wie viele haben den Weg hinein gesucht? Loris Gedanken rasen. Etwas ist passiert auf dem Weg hierher, in den Abgrund. Alles ist anders. Lori erinnert sich vage, wie an einen Traum, der bereits verblasst, dass die Gefährten vorher andere waren, dass dieser Ort, diese Zeit … die Klauen des Spuks greifen nach dem Kind, fahren ihm in die Kleidung, streichen über die Haut und suchen, suchen nach Öffnungen, nach freien Poren, einem Weg hinein, nach Zugriff. „HERZSCHLAG … ERINNERUNG … EIN LEBEN, DAS VORWÄRTS LÄUFT …EIN EINZIGES LEBEN …“
Lori schreit, rennt, reißt die Augen auf, fällt und streckt die Hände aus, um den Sturz zu bremsen. Funken tanzen im Sichtfeld, als der Schmerz den Körper durchstößt. Die Handgelenke brennen. Keuchend starrt Lori in den Staub eine Handbreit von ihrem Gesicht entfernt. Etwas bewegt sich darin, wurmt sich hindruch, wendet sich ihr zu und schüttelt die Oberfläche des grauen Pulvers ab. Ein grinsender Schädel kommt zum Vorschein, an dem Reste von Loris eigenem Gesicht kleben, bevor es zu Sand zerfällt, hinabrutscht, verweht.
Wir waren das, denkt Lori. Wir sind hier unten gestorben. Immer und immer und immer wieder. Die pulvrige Substanz stäubt in die Höhe und verklebt Mund und Nase. Der Schädel grinst, bis auch das Grinsen wegrutscht und eins wird mit dem Staub. Lor ringt nach Atem.