Fantasy, Sprache und Genre
Kürzlich erzählte mir der geschätzte Frank Böhmert begeistert von den „Wetzlarer Tagen der Phantastik„, wo man das Thema „Mythen in der Fantasy“ behandelt habe. Im nächsten Jahr — 2025 — seien dann die „Sprachen in der Fantasy“ dran, was ihn nicht so interessiere. Ich schüttelte mich zunächst auch etwas, dachte ich doch sofort an eine Art Tolkien-Symposion mit lauter Linguist*innen. Erst in den folgenden Tagen bemerkte ich, dass ich in Gedanken immer wieder zu diesem Gespräch zurückkehrte. Wenn ich ehrlich war, interessierte mich das Thema doch, wenn auch anders, als meine erste Assoziation nahe legte. Genau der Widerwille gegen (den von mir eigentlich geschätzten) Tolkien und seine Spracherfinderei wurde dabei zum Ausgangspunkt meiner Überlegungen. Ich musste an Delany denken, der vor allem in „Babel-17“ linguistische Hypothesen zum Kern einer Erzählung macht, aber auch in seiner Autobiographie über den Zusammenhang zwischen Sprache, Sexualität und Identität referiert. Wie das Unterbewusstsein manchmal so arbeitet, traf mich zur selben Zeit die Eingebung, ich müsse doch mal wieder in Lewis Carroll reinschauen, wo Alice ja berüchtigterweise den Rat erhält, schon vor dem Frühstück ganz unglaubliche Dinge zu glauben, vom „Jabberwocky“ ganz zu schweigen. Wo ich dann eines Nachts aber landete, war „Sylvie and Bruno“ mit der berühmten Eröffnungsszene, in der die politischen Machthaber — Hanswurste, aber doch Machthaber — vom Balkon die Rufe der wütenden Bevölkerung nach Brot missverstehen. „Unterbewusstsein“, für sich schon ein gutes Stichwort. Geordnet und von vorne:
Was stört mich am freundlichen Tolkien und seiner Grammatikbastelei, was führt mich zum ehrlich gesagt nicht ganz so freundlichen Carroll, zum vielleicht noch unfreundlicheren Arno Schmidt und seiner Joyce- und Karl-May-Begeisterung? Warum sind das außerdem mal wieder alles Männer?
Den Beginn des „Jabberwocky“ aus „Alice hinter den Spiegeln kennt man vielleicht:
„Twas brillig, and the slithy toves
Did gyre and gimble in the wabe;
All mimsy were the borogoves,
And the mome raths outgrabe.“
Was nach komplettem Nonsense klingt, hat eine innere Logik, handelt es sich doch um „Portmanteau-Wörter“, also Neologismen, die aus existierenden englischen Wörtern zusammengeschoben werden, um Bedeutungen abzubilden, die zwischen, neben, über und im Nebel um die Ursprungsbegriffe liegen. „Silther“ etwa leitet sich von „slimy“ und „lithe“ ab, „mimsy“ von „miserable“ und „flimsy“. Englisch-Muttersprachler*innen werden auch ohne bewusste Analyse erkennen, um welche Wortart es sich im Kontext des Gedichtes handelt und mehr erahnen als wissen, vor dem inneren Auge sehen und beim Vorlesen „erschmecken“, welche Bedeutung angesteuert ist.
Das kindliche — nicht unbedingt kindische — Zusammenmantschen der Wörter erschafft aus dem Englischen etwas Neues, das mit den Mitteln des Englischen über das Englische hinausgeht. Auf die Spitze getrieben wird diese Technik bei Joyce, im „Ulysses“ schon, aber in Höchstform in „Finnegan´s Wake“, wo der der gesamte lange Romantext in einer solchen zusammegematschten Kinder-Experimentier- und Spielsprache abgefasst ist. Diesen monströsen Text *kann* man analytisch lesen, nähert sich vielen Abschnitten aber doch besser — experimentierend und spielend, nämlich laut lesend und den Textraum/Texttraum abschreitend, um Bedeutungen eher körperlich zu ahnen als nur zerebral aufzuschlüsseln.
Eine solcher Umgang mit Sprache eröffnet der Phantastik Wege, die der tolkieneske Zugang weniger bietet. Zunächst ist die Alltagssprache im Hintergrund präsent, das Phantastische bleibt als vom Realen abgeleitet und von ihm durchspukt erkennbar. Die Straße zu einer im weitesten Sinne politischen Wendung der Phantastik liegt näher, wenn wir „politisch“ jenseits von Partei und Parlament als gesellschaftliche Bewegung, als Kämpfe um Ideologie, als Herausforderung der Herrschaft durch Spiel und Quatsch, die ernster ist, als man meint, begreifen. Der Modus ist dabei stets einer der Uneindeutigkeit, des ironischen Raums, der nicht gleichbedeutend mit Unernst ist. Vielmehr lädt ein solcher Zugang zur Errichtung einer „Interzone“ ein (um gleich auf einen großen Drogenphantasten, Burroughs, zu verweisen), aus der heraus wir dem strengen Auge der Rationalität und des ordnungheischenden Alltagsverstandes sagen können, alles okay, nur Spiel — aber vielleicht auch nicht? Oder doch?
Zudem verlockt uns ein solcher Sprachmodus, wie ihn Carroll für die Phantastik geöffnet hat, zum Spüren des Körpers. Ein schmeckender Mund, eine stolpernde Zuge, ein lachender Bauch, das Herumgehen und Deklamieren, das Huschen des suchenden Auges über die verwirrende Seite und das Gefühl zwischen den Schulterblättern und in der Brust, etwas nicht genau zu wissen, aber doch *etwas* zu wissen. Der analytische Zugang zu solcher Literatur ist nicht falsch, aber er bleibt unvollständig, ohne das kindliche Kichern, das aus der Brust ausbrechen will.
Diese lange Nase an Deutschlehrer und Professoren eröffnet der Phantastik Wege zur Körperlichkeit, zum Sprechen über Gender, Sexualität, Alter, Jungsein, Kindlichkeit, überhaupt der Materialität des literarischen Ausdrucks, und die gesellschaftlichen Bedingungen, an die sie geknüpft ist. Körper gehören in der konservativen Sicht Kindern, Frauen, Versehrten und Unnormalen, während die männliche Literatur sich in den Geist verabschieden will, und, wo sie von Liebe und Körper spricht, sublimieren. Politik muss in solcher Sprachturnerei Handarbeit werden.
Zuletzt ist das Spiel in und mit der Sprache die volle Konfrontation mit der Kontingenz, dem „Es könnte auch alles anders sein“. Die Pöppel der Sprache lassen sich so oder so zusammenstecken, Bedeutungen auf den Kopf und auf die Füße stellen, ja: in letzter Konsequenz ist es die Sprache, die die Welt macht, nicht mehr umgekehrt. Die Bindung ans Politische, an den Körper und das Politische des Körpers aber verhindern — im besten Fall — die nihilistische Wendung, dass Sprache beliebige Realitäten erschaffe und das nun alles egal sei. Das Spiel und das Neue werden dem Alten, das unsere Körper und Münder bedingt und das sich in der Bildungssprache sedimentiert, abgerungen und müssen gegen es verteidigt werden. Die Phantastik kann dieser Kampfplatz sein, blutig wie nur irgendeine Schlacht, die ja auch in vielen Sandkastenspielen vorbereitet wird, während sie zur Herrschaft stets sagen kann: Ist doch nur Kinderkram.
Wer, wie Tolkien, eine Welt mit Historie baut, damit die erfundene Sprache eine Heimat hat, ist zwangsläufig konservativ, wenn auch in Tolkiens Fall natürlich auf die denkbar netteste und pfeifenduftende Weise. Aber das Programm ist: Die Sprache erfasst die Welt, weil sie die Auffaltung der Sprache (bei Tolkien: der Gesang) Gottes ist, und jede Verwirrung in der Sprache bringt die Orks von Melkor und Sauron hervor. Was die Welt des 20. Jahrhunderts, in der Tolkien schrecklichste Weltkriege miterlebte, schon verloren hat, soll die Phantastik wieder herstellen, die Ordnung der Welt nach der Ordnung der Grammatik, die die Ordnung Gottes ist. Verständlich, aber gegenüber der Kindersprache des 20. Jahrhunderts, die freilich oft von kindlicher Grausamkeit gegenüber Ordnungswünschen ist, hoffnungslos rückwärtsgewandt und naiv.
Tolkien und Carroll erscheinen mir als zwei große Ströme, in die sie sich die Phantastik teilt: den hermetischen Modus der Fantasy, der sich gegen jedes Außen abdichten möchte, und das Märchen in seiner modernistischen Ausprägung, das immer auf unsere Welt zurückverweist, und sei es durch die Spiegel. Es verwundert auch nicht, dass Tolkien seinen Kollegen C.S. Lewis rügte, in dessen Narnia schmerzbefreit der Weihnachtsmann, Faune, Feen, sprechende Tiere, babylonische Hexen mit unangenehm sexy nackten Armen, Straßenlaternen, die arabischen Angstgegner des britischen Weltreichs und die Kinder von Vergetarier*innen durcheinander hüpfen. Es ist der Märchenmodus, die Grammatik der Welt, unserer Welt, die durch teuflisches Herumspielen (der Teufel ist nach der griechischen Wortwurzel der große Durcheinanderwerfer) wie im Kaleidoskop uns um die Augen und sprachlich um die Ohren fliegt; viel zu viel Körper für den freundlichen Konservativen Tolkien.
Fantasy und Märchenmodus, abgedichtete Kunstsprache aus Gottessehnsucht und kindliche Sprachzertrümmerung von Atombombenmacht, wo Gott schon streng riecht, das hat sofort Folgen fürs Genre. Fantasy hat Grenzen, und die Welt bleibt bitte daußen, damit wir noch einmal eine Welt sehen und sprachlich erleben, die sich selbst genug ist. Märchen machen die Fenster weit auf (in den letzten Volksmärchen des 19. Jahrhunderts haben die Könige bereits Telefon), und wo Autoren wie Lewis alles noch wieder einfangen wollen, laufen ihnen die zusammengematschten Zeichen schnell über — Mädchen, die sich schminken und Auto fahren, Erwachsene mit Reformschulen und Vegetarismus sollen in Narnia nichts verloren haben, aber schwupps sind sie schon im Text, und die vielen Mythenzeichen, die hier nebeneinanderstehen, kann ein Autor alleine schon gar nicht mehr auf eine Bedeutung festlegen.
Märchenautor*innen in diesem Sinn, das sind neben den genannten zB auch noch Walter Moers, Angela Carter, Kelly Link, Becky Chambers, Joanna Russ, China Mieville … und euer geschätzter Blogautor hier. Und wo die Frauennamen plötzlich herkommen, tja, Gender und Genre wäre ein eigener längerer Text, aber ganz schnell gesagt, manche gesellschaftlichen Positionierungen legen den Märchenmodus näher als andere.
Tolkien war beim Hobbit übrigens noch dichter am Märchen, wo das Golfspiel erfunden wird und die Orks die Kriegsmaschinerie unserer Welt vorweg nehmen, weshalb mit dieses vermeintliche Kinderbuch auch eigentlich besser gefällt.
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