Gerne nicht allein

Gerne nicht allein

Es ist kein Geheimnis, dass ich den alten Drosten mit einem Küchenmesser erstochen habe. Er kam Sonntags zu mir an die Tür und meinte, es sei Zeit, dass ich hier verschwinde. Vielleicht lag es an der Hitze, vielleicht auch nur daran, dass ich die Schnauze voll hatte. Dass ich genug hatte von seinem Grinsen, von seiner blöden Rasurfrisur, von seinen ewigen schwarzen Hemden. So trat er auch immer in seinen YouTube-Videos auf. Seriös, aber von der Straße. Ein rechter Intellektueller. Ein Waldgänger und Rittergutbewohner.

Nur, dass es bei uns keine Rittergüter gab. Drosten wohnte in einer Osthütte, deren Fassade mit dem bröckeligen Zeug verschmiert war, dass sie überall drangekleistert haben. Ich weiß nicht, wie das heißt. Ich weiß eine Menge nicht. Ich bin ja nicht von hier. Ich komme von drüben, wie Drosten übrigens auch.

Das Grundstück war billig, das Haus war eine Bruchbude, aber wo hätte ich mir sonst schon ein eigenes Haus leisten können? Ich sagte mir damals, ich würde das reparieren, alles in Stand setzen, mir YouTube-Tutorials ansehen. Scheiß YouTube. Dieser ganze Online-Mist macht alles kaputt. Die Leute hier hocken von früh bis spät in den leeren Straßen unter den stinkenden Obstbäumen voller Wespen und glotzen in ihre Handys. Ab und zu fährt ein Auto die Straße des Friedens oder die Ulbrichtallee runter. Westautos sagen die Leute hier. Natürlich fahren sie genau die gleichen Autos. Aber jeder weiß, was gemeint ist. Mit jedem beschissenen Video, das sie da angucken, geht das mehr in ihre Schädel rein. Osten, Westen. Alles haben sie uns weggenommen. Deutschland, aber normal. Normal heißt beschissen. Wie es immer war. Klein. Keine Schwulen, keine Transen, keine Ausländer. Außer der Familie von dem Chinaimbiss. Die sind aus Vietnam, aber egal. Beziehungsweise, hier geboren. Genau wie die meisten anderen hier. Nur, dass die eben tagsüber in ihrem leeren Lokal hocken und ins Handy glotzen. Auf Vietnamesisch halt. Aber sonst genau das gleiche. Normal. Normal beschränkt, normaler Biergestank, normale Billigzigaretten, normaler Hass. Man steht so rum und weiß nichts und dann bewirft man die Westautos mit Steinen oder zündet was an oder pappt Aufkleber auf Laternenpfähle, auf denen was von Stolz, dem Verein und im Osten geboren steht. Samstags Disco. Disco auch normal. Kein Sex, kein Glitzer, keine Schönheit der Nacht. Gucken, wem man aufs Maul hauen kann. Dumme Musik. Nichts Geschmeidiges. Geschmeidigkeit ist hier unbekannt.

Natürlich habe ich das Haus niemals renoviert. Dafür schnell die Videos gesehen. Der alte Drosten hat jede Woche was Neues. So alt ist er gar nicht. Und dass er heißt wie der Corona-Arzt, der damals in allen Talkshows war, da macht er natürlich selber am liebsten Witze drüber. Erst waren es nur Schwänke aus seinem Leben. Dass er in Jugoslawien gewesen ist. Bürokraft, aber irgendwie ist bei den Leuten hängen geblieben, dass er Kampferfahrung hat und ein ganzer Mann ist. Scheißmännlichkeit ist hier sehr wichtig, im Stehen pissen, Hantelbank, Frauen anlabern, durch Feuer springen, bei der Kirmes aus der Wilden Maus kotzen. Die paar Frauen, die noch hier sind, verdrehen die Augen. Die meisten sind weg. Normal, das heißt auch: Typen unter sich. Die letzten Mädels als Beute. Mädels sagt man hier wirklich.

Nach den Storys von früher dann das Tagesgeschehen. Merkel, die Ausländer. Verrat am Volk. Dass man in diesem Land keine Politik für das eigene Volk mehr machen darf. Achter Mai. Niederlage. Die Massenvergewaltigungen. Die Grünen. Immer wieder die Grünen. Ich verstehe ja die Verachtung. Aber da hätte ich ihm und seinen achtzigtausend Followern ein bisschen die Perspektive gerade rücken können. Gefährlich sind die ja nun wirklich nicht, die Grünen. Nervig halt. Und immer bei den Gefährlichen zur Stelle. Als sie den Merz nicht gewählt haben zuerst, hab ich mir das richtig gut vorstellen können, wie er in der Sitzungspause bei den Grünen vorbeigeht und sagt, sorry, ihr versifften Schwuchteln, könnt ihr mir aus Verantwortung für diesen Besatzerstaat mal ein paar Stimmen leihen? Und wie sie dann ganz dolle Bauchschmerzen gekriegt haben, aber natürlich gesagt haben, klar, Herr zukünftiger Bundeskanzler, machen wir. Über kleinlicher Rache stehen wir doch drüber.

Ich stehe nicht über kleinlicher Rache.

Als der alte Drosten dann an diesem Sonntag bei mir geklingelt hat, und meinte, es ist an der Zeit, dass ich verschwinde, da hatte ich das Messer schon in der Hand. Ingwerhacken. Auch so eine Internet-Idee. Ein Food-Trend. Aus dem Haus gehen ist ja hier eher schwierig. Gehen ist für mich sowieso eher schwierig. An manchen Tagen ist für mich schon Aufstehen schwierig. Ich gestehe, dass ich über Metal Health-Reels nicht erhaben bin. Ja, ich habe schon Selbsttests auf ADHS gemacht. Positiv, klar. MFCS, käme auch hin. Ich will mich darüber nicht lustig machen. Leute haben diese Sachen und sind beschissen dran deswegen. In ehrlichen Minuten denke ich, dass es in meinem Fall eher die Tatsache ist, dass ich in einem normalen deutschen Dorf festsitze, beinahe einer Kleinstadt, in der vierzig Prozent eine Nazipartei wählen und nochmal fast genau so viele eine bürgerliche Partei, die nur verzweifelt versucht, von den Nazis nicht komplett abgehängt zu werden. Und an meiner Riesenwut auf mich selbst, dass ich das nicht rechtzeitig erkannt habe und als ich es erkannt habe, nicht die Konsequenzen daraus gezogen habe. Und klar, ich hätte es schon ganz am Anfang wissen können: 2015. Das war zwar noch vor 2016 – kaum zu glauben, dass man solche Sätze schreibt, eine Zahl minus eins ergibt die Vorgängerin dieser Zahl, eine kleinere Zahl, ein weiter zurückliegendes Jahr, aber man kann ja nicht wegen jedem Mist Chat GPT fragen, jedenfalls, alle, wirklich alle, haben mir damals davon abgeraten, und die meisten haben auch schon gewusst, dass ich das Haus auch mit noch so vielen DIY-Tutorials nicht wieder in Schuss kriegen würde. Apropos in Schuss kriegen, dass ich mich bewaffnen solle, das haben sie mir auch geraten, nachdem ich die Briefe im Kasten hatte: Wir kriegen dich. Mit dem Fadenkreuz. Ich schwöre, es waren wirklich aus der Zeitung ausgeschnittene Buchstaben, und es war wirklich ein Schreibfehler in dem kurzen Gebelle: Wir krigen dich. Ohne E.

Im Studium hatten wir dieses Buch von dem Franzosen, ganz ohne E, weil in der Shoa Menschen unwiederbringlich verschwunden sind, und so sollte auch der Vokal aus dem ganzen Text verschwinden. Ich habe ja nicht zu Ende studiert. Vielleicht war ich damals schon krank. Ich glaube aber, dass in dem Drohbrief das E gefehlt hat, das hatte andere Gründe. Dummheit käme infrage, aber ich tippe noch eher auf Nachlässigkeit. Es ist ja klar, was gemeint ist, auch ohne E. Nämlich, dass solch wie ich bald nicht mehr da sein sollen. Drohung normal.

Überhaupt hat sich da nicht viel geändert in den letzten Jahrzehnten, dass schlaue Leute sehr angestrengt versuchen, das nachzuahmen was dumme Leute einfach so schaffen.

Ob die wirklich dumm sind, die Frage kann ich nicht mehr hören. Dumm fand ich, dass relativ viele Menschen aus meinem Bekanntenkreis meinten, man dürfe sich nicht so erheben über die bei mir im Dorf. Ich solle doch da mal in den Schützenverein. Oder einfach mit denen ein Bier trinken. Aufs Feuerwehrfest. Das haben mir Leute gesagt, die in ihrem Leben kein Dorf von Nahem gesehen haben. Abgesehen davon, dass es all diese Sachen bei uns in der Gegend nicht gibt, selbst wenn ich mich an der Bushaltestelle, vor dem Getränkemarkt oder auf der Allee des Friedens dazugesetzt hätte, hätte das nichts genützt. Sagen wir meinetwegen nicht „dumm“. Sagen wir „stumpf“. Stumpf wie ein Werkzeug, das nur noch eine Sache kann und auch die nicht mehr so richtig. Kaputtmachen, was nicht so ist wie man selbst, egal, ob man dabei selbst noch kaputter wird. Da ist es egal, ob einer Diffenzialgleichungen lösen kann, Goethe gelesen hat oder einen Robotron-Rechner wieder zusammenlöten kann. Man kann halt nur noch eine Sache, und da wird es egal, ob der Drohbrief orthographisch richtig ist, oder ob man nach dem Zusammenschlagen von Leuten wie mir Bier oder Cognac trinkt. Die Stumpfheit dieser Leute können sich Leute wie ich nicht vorstellen. Da ist immer die Rede vom Miteinander, vom Diskurs, vom Aushalten der Unterschiede, von der Ambiguität. Das kann mir hier alles gerne finden und sagen, aber man wird trotzdem zusammengeschlagen. Und wieder. Und wieder. Bis man weggeht.

Ich wollte aber nicht weggehen.

Das war auch so eine Masche vom alten Drosten. Kultur. Ernst Jünger, Michel Houellebecq, Jean Raspail, solche Leute bracht er. Aber auch mal was Gothic-mäßiges. Neofolk. Ein Tocotronic-Album, süffisant besprochen. Wenn ich das Dorf durch meinen Champagnerkelch hindurch betrachte, ist es schon eine witzige Vorstellung, dass einer von denen mit der Hand im Getriebe oder im Enddarm einer Kuh halblaut Jünger zitiert. Aber was weiß ich schon. Im Zweifel für den Zweifel.

Am Ende ist es nämlich auch scheißegal, was die in ihrer Freizeit machen. Hauptberuflich wollen sie mich stumpf weghaben. Und da kam er öfter, der alte Drosten. Schon vor dem Sonntag. Beim Einkaufen hat er sich unterhalten mit einem, im Nachbargang. Dann auf der Straße. Stand mir schon im Weg. Hatte noch wen dabei. Ein Pickelgesicht mit schwarzem Lee-Perry-Hemd. In der Stadt hätte man gesagt: Schwul. Und der alte Drosten mit seinem Grinsen, seiner Maschinenschnittfrisur und dem knitterfreien Hemd.

Er war sehr höflich. Höflich wie eine KI. Die Bilder auf seinem Kanal, die spuckt ihm die Maschine aus. Blonde, glatte Leute in hochmodernen Ährenfeldern. Zusammengepuzzelt aus dem Raubgut irgendwelcher Frankensteins aus den Siliziumuntiefen am Mullholland Drive. Jeden Fehler geben die natürlich gerne zu und bedanken sich noch für deine Kritik. Fehlerfreundliche Unternehmenskultur. Weil du ihnen ja damit hilfst, dich noch besser fertig zu machen am Ende. Bitte entschuldige, mir ist ein Fehler unterlaufen. Das hätte nicht passieren dürfen. Ich korrigiere mich. Es tut mir leid, wenn ich Ihnen mit meinem schwul aussehneden Dorfschläger-Mietling irgendwie Angst mache. Das hätte nicht passieren dürfen. Ich korrigiere mich. Natürlich will ich Ihnen Angst machen. Aber ich will dabei Intellektueller bleiben. Nehmen Sie es mir nicht übel. Hier ist die veränderte Fassung meiner Antwort. Meiner Bedrohung. Die passende, die genau auf ihren Prompt passende Antwort, den sie für mich arme Nazischweinmaschine dankenswerterweise noch mal präzisiert haben mit ihrer Gegenwehr und ihrem Zittern. Ich verachte Sie jetzt nicht mehr, weil sie ein Spasti sind, sondern eine Schwuchtel. Oder ein Tiefpigmentierter. Oder ein Talahon. Entschuldigen Sie das Versehen. Und jetzt verpissen Sie sich, Entschuldigung, sehen Sie zu, dass Sie Land gewinnen, nein, ich korrigiere, treten Sie die Flucht an. Bitte bewerten Sie Ihre Erfahrung mit mir, das hülfe uns für zukünftige Interaktionen sehr weiter, die es hoffentlich mit solchen wie Ihnen hier nicht mehr geben wird, weil wir stumpf hoffen, aus einem herrlichen Volk zu bestehen, einer Schicksalsgemeinschaft, in der alle gleichermaßen gemein sind, denn das heißt ja, räusper räusper, nur aus dem Volk stammend, gleich geartet, gewöhnlich, normal, wie wir auch gerne sagen. Danke, dass Sie uns mit ihrem Bluten und Schreien geholfen haben, normal von abnormal zu trennen.

An diesem Sonntag kam er allein. Er fühlte sich sicher mit den achtzig Prozent im Rücken. Das Messer hatte ich wie gesagt in der Hand, weil ich einem meiner Drinnie-Hobbies nachging. Ich blieb überwiegend drinnen. Home-Office, Digitalnomade, man kennt es. Hauptsache Made. In einem kleinen Apfel, da geht es lustig zu. Nachts kam ich raus, beziehungsweise früh morgens, wenn alles schon schlief und der Schlaf selbst bereits in den Uhren lag. Kalte Luft, einzelne Laternen, Düfte von allerlei herumwucherndem Geranke, das hier niemand mehr schnitt rund um die Fabrikruinen mit den blinden Fenstern. Eastern Gothic. Automaten und Magnetiseure gingen dann um, und dazu ich, als vorübergehend aufgetauter Unlebender aus dem Bergwerk und Rappacinis Tochter zugleich, der Sandmann dieser ganz und gar normalen Leute. Bildung, diese unnütze Flucht.

Eigentlich war ich nur verzweifelt.

Natürlich dachte ich oft daran, jetzt einfach weiterzugehen, durch die Streusandbüchse des Heiligen Reiches bis in die Stadt, oder einfach am kleinen Bahnhof zu schauen, ob nicht mal wieder ein Zug käme, bei all den Reparaturen an Gleisbetten und Hochgeschwindigkeitsstrecken, und dann um Asyl zu bitten bei den Freunden von früher. Abgesehen davon, dass kein Zug gekommen wäre, weil die Strecken hierher bereits nicht mehr rentabel waren – wer hätte kommen wollen? Wer war noch nicht fort? Welches Recht auf Asyl hätte ich noch gehabt, welche Wohnung wäre für mich noch erschwinglich gewesen?

So stand ich Sonntags unausgeschlafen vom nächtlichen Herumgeistern in der Tür, das im Internet georderte Supermesser in der Hand, die Schürze um. Natürlich grinste er. Was ein Bobo-Hobby, die Zubereitung verfeinerter Speisen, das Essen alleine, die Geschmäcker, die keinen Hunger stillen sollten. Weibisch, die Kultivierung, bei der der gefrorene Acker nicht mit dem erigierten Penis umgepflügt wurde.

Es sei jetzt an der Zeit. Zeit für mich zu gehen. Als würde er mich nur daran erinnern, was ohnehin längst feststand. Und da nahm ich das Messer und stieß es ihm in den Hals. Wir sind, wie man weiß, vom Krieg entfremdet, und haben lediglich aus Medien das Bild gewonnen, dass es viel schwieriger sei, jemandem eine Klinge durch das Halsfleisch in die Schlagader zu treiben, als man vor dem Bildschirm oder in Racheträumen denkt. Ich kann aber sagen, dass es sehr leicht ist. Es gehört zu den einfachsten Dinge, die ich jemals getan habe. Viel einfach, als diese Bericht zu schreiben. Eine rasche Bewegung, gar nicht sehr geschickt, und es war getan. Der alte Drosten taumelte auch nicht, und seine Lippen formten auch keine tonlosen Wörter. Er sah mich nicht aus schreckgeweiteten Augen an und wich nicht vor mir zurück. Er schrie „Aua, verflucht, du Scheißfotze“, was mich, ich weiß auch nicht warum, erheiterte, sodass ich kichern musste.

Dann stürmte er voran und wollte mich, ich weiß auch nicht, würgen, umreißen, jedenfalls hob er die Hände und tat doch noch etwas einigermaßen Dramatisches, indem er sie nämlich zu Klauen krümmte. Ich dachte weiterhin wenig nach, und zog das Messer deshalb wieder heraus. Ich nehme an, dass es mir doch falsch vorkam, ein Messer in einer Halsschlagader zu sehen, da ich zu Recht spürte, dies sei eine gefährliche Verletzung, die in den meisten Fällen zum Tode führte. Die Klinge glitt genau so leicht heraus, wie sie hineingegangen war, gefolgt allerdings von einer bis dahin wenigstens von mir nicht gesehenen Menge Blut, die zunächst verebbte, dann aber mit dem Pulsschlag immer wieder ergänzt wurde. Es roch sofort stark nach Eisen. Der alte Drosten brach zusammen, das muss ich schon so sagen. Als hätte ihm jemand – nicht ich, dafür verbürge ich mich – die Beine weggehauen. Er lag, stierte zu mir herauf und gurgelte nun wahrhaftig. Ich dachte bei mir, dass ich jetzt noch das Handtuch von meiner Schulter reißen und es auf die Wunde pressen konnte, um anschließend schnell einen Notarzt zu informieren. Allerdings tat ich das nicht. Ich hatte keine Lust dazu. Es erschien mir auch sinnlos. Stattdessen trat ich dem alten Drosten mit etwas Anlauf in die Seite. Er schrie schon nicht mehr, sondern gab einen dunklen Laut von sich und schiss ein, was ich riechen konnte. Ich lachte.

Als ich damit fertig war, überlegte ich kurz, was zu tun sei. Ich säuberte mich notdürftig, wickelte den alten Drosten in einige Müllsäcke, die dabei aber glitschig wurden. Ich besitze aus Gründen des Klimaschutzes kein Auto, sodass ich die Leiche nicht abtransportieren konnte. Die Fabrikruine mit den blinden Fenstern wäre ein passender Verklappungsort gewesen. Man hätte ihn auch so vermisst, aber es hätte etwas länger gedauert. Ich musste ihn also im Garten vergraben. Ein hastiger, improvisierter Vorgang, der mir keine Sicherheit erkaufen konnte. Ich hatte allerdings auch vorher keine Sicherheit genossen, sodass ich es mehr schlecht als recht und wie aus Pflichtgefühl über die Bühne brachte.

Es kann nicht mehr lange dauern, bis die anderen bei mir vor der Tür stehen. Ich male mir aus, dass sie Fackeln und Mistgabeln anrücken, aber wahrscheinlich ist doch, dass zwei Polizist*innen klingeln. Auch ist unwahrscheinlich, dass sich Massen von Leibern gegen Türen und Fenster drängen und irgendwelche Hände mit sechs oder acht Fingern durch die Spalten drängen, abgesplitterte Grabesnägel inklusive. Wie gesagt, Kultur informiert hier unzureichend, auch und gerade die populäre oder randständige. Expert*innenwissen oder Cineast*innen-Erfahrungen trügen. Es ist das Blöde und Bittere, das es an der ganzen Sache keinerlei Geheimnisse und nichts zu entschlüsseln gibt.

Dass ich den alten Drosten erstochen habe, war nur vorübergehend befriedigend, und bereits jetzt beginne ich wieder zu ahnen, was mir bis vor kurzem jederzeit klar gewesen wäre, dass es sich um ein Verbrechen gehandelt hat, um ein brutales, verzweifeltes, sinnloses (wenn es sinnvolle Verbrechen gibt) und nicht zuletzt stumpfes Verbrechen. Es ist nichts Heldenhaftes, nichts Nützliches und schon gar nichts Nachahmenswertes daran. Es war nicht einmal eine Verzweiflungstat, denn obwohl ich verzweifelt war, hätten mir andere Möglichkeiten offengestanden, die ich lieber hätte ergreifen sollen, hätte ergreifen müssen. Es ist auch keine Lösung für irgendwas. Warum ich es trotzdem getan habe, finde ich aber auch nicht geheimnisvoll: Ich bin ein ziemlich gewöhnlicher Mensch, der unter schwierigen Umständen und isoliert, vielleicht aus Sturheit isoliert, also nicht ganz unschuldig isoliert, etwas getan hat, was er nun schon wieder – ach, ich würde nicht sagen, dass ich etwas bereue. Ich bin allerdings traurig, dass mir nichts Besseres eingefallen ist. Dass auch sonst niemandem etwas Besseres eingefallen ist. Und traurig über die Geheimnislosigkeit der ganzen Situation.

Denn alles liegt klar auf der Hand und kann niemanden überraschen, obwohl ich schon finde, dass allgemein erstaunlich viel in die Gesamtsituation hineingeheimnist wird und ziemlich viel soziologisches Kartenlegen veranstaltet wird. Da ich davon ausgehe, dass mein Fall in den nächsten Wochen – na, sagen wir Tagen oder immerhin Stunden – einige Aufmerksamkeit erregen wird, ist es vielleicht gut, diese Dinge einmal festzuhalten, da ich jetzt frei bin, sie auszusprechen.

Vierzig Prozent der Menschen hier sind Nazis und vierzig weitere Prozent können sich mit Nazis arrangieren. Diese Menschen gewinnen wir durch kein Reden, kein Geld und kein Parteiprogramm zurück für ein gutes Leben, weil sie nie dafür waren und unsere Vorstellung von einem guten Leben auch überhaupt nicht teilen.

Wir restlichen zwanzig Prozent werden diese achtzig Prozent nicht los. Es besteht keine Möglichkeit eines Mauerbaus oder einer Abspaltung. Sie sind da und gehen nicht weg.

Es gibt keine Regierung, die uns hilft, denn die Regierung ist für uns nicht da, wenn sie nicht gleich eine Regierung der achtzig Prozent ist.

Das alles sind keine Geheimnisse. Weniger offensichtlich ist, was tu tun wäre. Ich bin da kein gutes Vorbild, nicht nur, weil ich nicht früh genug das Weite gesucht habe. Suchen darf man sie ja, die Weite, nur ob sie irgendwo zu finden wäre und ob die Mehrheitsverhältnisse dort andere wären, das ist so eine Frage.

Nein, ich vermute, wir sollten uns nicht alleine lassen. Ich bin da jetzt nicht im Speziellen wütend auf jemanden. Aber ich wäre doch schon gerne nicht alleine gewesen. Ob es helfen würde, wenn wir zusammen wären, was immer wieder auch sehr anstrengend sein dürfte, stelle ich mir vor, und ob wir Häuser, Freiflächen, Zeiträume, ja Gott, Strukturen, wie wir an der Uni immer gesagt haben, oder Freundschaften, Beziehungen, wie wir nicht so oft gesagt haben, bilden, ach, nicht gleich bilden, ich sage mal: ausprobieren könnten, in denen man nicht alleine wäre, in denen man etwas bewirken könnte, und ob dann nicht vielleicht, wenn dort unter einigermaßen Gleichen eine Wirksamkeit möglich wäre, doch noch von den achtzig Prozent vielleicht fünf oder zehn noch zu uns herüberkämen, wenn wir auch nur darüber sprechen würden, miteinander sprechen, was wir eigentlich wollen, was dann geschehen könnte oder nicht gleich geschehen, sondern wie wir uns erst einmal fühlen würden, wenn wir wir wären und alle Ichs nicht kaputtmachen würden, das wäre, weil es meines Wissens nach noch nie versucht worden ist, ein wirkliches Geheimnis.

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