Zu Delaneys „Through the Valley of the Nest of Spiders“

Zu Delaneys „Through the Valley of the Nest of Spiders“

(Rettung eines Texts aus den Untiefen des Internets von 2022)

Ein Zwischenfazit nach gut der Hälfte.

Samuel Delanys „Through the Valley of the Nest of Spiders“ ist ein literarisches Meisterwerk und in vieler Hinsicht der Kulminationspunkt lebenslanger Arbeit. Das Buch verbleibt allerdings zu unentschlossen in Hinsicht auf sexuellen Konsens, vor allem die Zustimmungsfähigkeit Minderjähriger. Dieser Punkt ist für mich so zentral, dass die vielen anderen atemberaubenden Aspekte des Buches daneben verblassen, und die Begeisterung über Delanys Genie an anderen Stellen stark getrübt wird.

Der äußerst umfangreiche Roman wartet mit einer Flut und besser gesagt: einem Schmierfilm sexueller Handlungen auf, die ausnahmslos in den Randbereichen der Sexualität angesiedelt sind. Konkret geht es um die erotische Besetzung des ansonsten Tabuisierten und Verworfenen“, in erster Linie von Ausscheidungen wie Pisse, Kacke, Rotze, Schweiß, Kotze, Smegma und jeder Art von Dreck, die sich auf Körpern ansammelt. Sexuell besetzt werden körperliche Gebrechen, Krankheiten und Behinderungen. Daneben haben wir es durch die Bank mit Homosexualität zu tun, die nicht-monogam, halb-öffentlich, mit vielen Beteiligten, auf einem Kontinuum von völliger Anonymität über flüchtige Bekanntschaft bis zu lebenslanger (nicht-monogamer)Beziehung stattfindet. In vielen Fällen haben diese Beziehungen ein Element von Machtspielen, klassisches S/M oder Spiel mit körperlicher Gewalt, Fesselung etc. tauchen auf, spielen aber insgesamt nicht die Hauptrolle. In einem Fall findet Sex mit einem Hund statt. In diesen Bereich fällt auch die Durchkreuzung des Inzesttabus, sowie zumindest das Gespräch über sexuelle Handlungen mit Minderjährigen und Kindern. Diese werden stark problematisiert und kritisiert und man merkt dem Text an, wie Autor und Figuren hier um eine Haltung ringen, aber diese Problematisierung greift mir, so bedächtig sie daherkommt, wie gesagt, zu kurz – später mehr.

Nach dieser Aufzählung dürfte klar sein, dass die Einstiegshürden in den Roman für viele, vielleicht den Großteil des Publikums gewaltig sind und sehr viele Menschen mit Rücksicht auf ihre Ekelgrenzen früh aussteigen. Bleibt man aus Pflichtgefühl, Neugier oder purem Herausgefordertsein dabei, zeigt sich möglicherweise derselbe Effekt wie bei mir, dass nämlich das Befremden und der Ekel einer Reihe von anderen Gefühlen weichen. Diese affektive Ansprache ist eine der großen Leistungen des Romans und meines Erachtens in der transgressiven Literatur ziemlich einmalig. Obwohl ich auch nach mehreren hunderten Seiten kein Fan des Beschriebenen wurde oder auch nur fand, ich müsste das jetzt auch mal ausprobieren, empfand ich die sexuellen Handlungen zunehmend als Ausdruck von Zuneigung, Wärme und Fürsorge unter den Figuren. Internetrecherche ergab, dass es anderen Menschen ähnlich ging. Der Grund dafür dürfte Delanys durchgängige „matter-of-factly“ – Erzählweise sein, die auf jede Effekthascherei oder ausgestellte Schockwirkung verzichtet, sondern die Figuren als liebenswert und für sie völlig selbstverständlichen Impulsen folgend darstellt. Dies als Dekonstruktion des üblichen Porno-Narrativs der Initiation durch Demütigung, wie man sie etwa von de Sade kennt. Die Figuren des Romans fühlen sich an keiner Stelle gedemütigt und den Leser*innen werden die sexuellen Handlungen jederzeit als selbst gewählt, lustvoll und befreiend vorgeführt. Sie sind außerdem so alltäglich, fast beiläufig, dass sie ohnehin jedes Schockmoment verlieren.

Zweitens greift Delany einen Gedanken auf, der in seinem Werk spätestens seit dem Langessay „Times Square Red, Times Square Blue“ präsent ist, nämlich dass Sex, und zwar vor allem in der oben beschriebenen Weise transgressiver Sex, im amerikanischen Kontext ein Ort von Klassen- und Race-Begegnung sein kann, der im Zentrum der sexuellen Ordnung nicht möglich wäre. Letztendlich folgt er damit der „französischen Tradition“ von Battaille über Lacan und Foucault, die davon ausgehen dass Sexualität das Mittel zur Aufrechterhaltung der „Ordnung der Dinge“ sei, indem sie Körper und Subjekte auf herrschaftsgemäße Weise formt und sogar erst hervorbringt, sodass im Umkehrschluss in den Randbereichen, im Verdrängten, Verworfenen und Verbotenen andere und freiere Formen der Subjektivität möglich werden, tendenziell widerständige und rebellische. Eine weitere Fragen an den Roman könnte sein, ob damit nicht auch eine Fetischisierung der der „Verworfenen“, also der vielen Wohnungslosen, Arbeiter, Ungebildeten, Kranken etc. des Romans einhergeht, die der Wirklichkeit dieser Menschen ebenso wenig gerecht wird wie das „Verwerfen“ durch die Mehrheitsgesellschaft. Man muss Delany aber zugute halten, dass er neben den Sexszenen auch das sonstige Leben dieses Personals mit viel Respekt, Zuneigung und offensichtlicher Sachkenntnis schildert – die Figuren sind also deutlich mehr als Fetische. Auf der philosophischen Ebene scheint Delany Gefahr zu laufen, in den Randbereichen des Sexualität doch das „Echte“ oder „Wahre“ zu finden, ein Außen des Diskurses, dass es laut seiner theoretischen Inspiration aus Frankreich so eigentlich nicht geben kann. Aber das sind Nebenfragen. Wichtig ist, dass Delany gerade durch die Aneinanderreihung „perverser“ sexueller Szenen den wiederkehrenden Figuren und auch vielen Nebencharakteren Schritt für Schritt eine Persönlichkeit, eine Geschichte, ein eigenständiges Leben verleiht, das sie deutlich von den Konsumzombies der „Tagwelt“ im (sexuellen) Zentrum abhebt. Auch dies übrigens wieder im Gegensatz zu pornographischen Standards, in denen die Fickpuppen höchstens erotisch aufgeladene Klischees verkörpern. So ertappe ich mich nach einigen hundert Seiten bei aufrichtiger Freude, wenn dem Protagonisten Eric nach vielen inneren Wandlungen und Windungen von seinem „Daddy“ Dynamite endlich mal schön in den Mund gepisst wird – nicht, weil ich es so geil finde, sondern weil ich dabei war, wie Eric an der Auseinandersetzung mit seinen Wünschen gewachsen ist und mithilfe anderer Fickfreunde die nötigen Kommuikationsskills erlernt hat.

Diese Vorgehensweise Delanys erlaubt es ihm auch, die Pornographie derart vom Schwanz auf den Arsch zu drehen, wie er es mit der Sciencefiction gemacht hat. Die sexuelle Gemeinde der Müllhalde eines kleinen Städtchens in Georgia wird hier zur nachtseitigen Chronik der amerikanischen Gesellschaft seit 2007 – Rassismus, Gentrifizierung, Verarmung, Gesundheitswesen, die Wahl Obamas, verlängert in die Zukunft der nächsten 80 Jahre werden uns durch das Prisma des Fickens vorgeführt, und das ist für sich genommen schon eine Meisterleistung und eine der besten Analysen Amerikas mindestens dieses Jahrhunderts.

Abgesehen davon ist das Buch schlichtweg informativ. Ich habe von Delany, der nach eigenem Bekunden viel von dem, was er beschreibt, auch gelebt hat, eine Menge Sachen über Sex gelernt, den ich selbst nicht habe und auch nicht haben wollen würde.

Nun aber zum Konsens. Konsens bei allen Beteiligten spielt im Roman eine zentrale Rolle und macht, wie gesagt, einen großen Teil der erstaunlich zärtlichen und wohltuenden affektiven Wirkung aus. Natürlich weiß Delany, dass dies dann auch für das Brechen der Inzest- und Altersgrenzen gelten muss, die ihm aus Gründen seines philosophischen Programms aber unabdingbar sind. Im Grund stellt er die Frage, wo Schutz in Disziplinierung umschlägt. Wir gehen davon aus, dass Kinder und Jugendliche prinzipiell gegenüber Erwachsenen und vor allem Familienangehörigen nicht echt konsensfähig sind, weil sie sich zwangsläufig in einem Abhängigkeitsverhältnis befinden. Das stimmt zwar, sagt Delany implizit, aber wie gewichten wir dem gegenüber das Recht auch minderjähriger Menschen auf sexuelle Selbstbestimmung und wie verhindern wir, dass sie ausschließlich im Sinne der herrschenden Macht geformt werden?

Diese Frage aufzuwerfen finde ich an sich nicht verwerflich, die Antwort bleibt im Roman ausgesprochen unbefriedigend, to say the least. Delany wählt das Vorgehen, seine Hauptfigur Eric Unbehagen am Verhältnis seines Liebhabers Shit mit dessen Vater Dynamite empfinden zu lassen, das schon in der Kindheit begann. Eric holt sich daraufhin die Meinung verschiedener anderer Figuren ein, darunter Shit selbst, der einfach sagt „Ich habe das selbst so gewollt, wäre sauer gewesen, wenn man es mir verweigert hätte“. Andere Figuren führen die Ideen ein, es gäbe Altersstufen, die verschiedene Arten von Graubereichen darstellen. Entscheidend sei immer, dass die Initiative von den Minderjährigen selbst ausgehen müsse, Grenzüberschreitungen von seiten Erwachsener seien ganz klar zu verurteilen und eben Vergewaltigung, wofür in der Welt des Romans kein Platz sein soll. Es wird in diesem Zusammenhang auch auf die Funktion des „befreit Aufwachsens“ verwiesen. Eric bleibt am Ende mit dem Gefühl zurück, keine befriedigende Antwort erhalten zu haben und seine Sorge um den Freund nicht losgeworden zu sein. Er selbst wird von einem Kind beim Masturbieren überrascht und spürt die widerstreitenden Positionen in sich, bevor er sich entschließt, dem Kind zu erklären, dass das Beobachtete nichts Böses gewesen sei, dass das Kind aber noch „eine Weile ohne das auskommen“ könne.

Dieser Versuch einer Diskussion der Eingangsfrage enthält nun leider genau die Muster, die man im Zusammenhang mit Missbrauch von Tätern und traumatisierten Opfern hören kann. Es ist überraschen und enttäuschend, dass jemand wie Delany, der andererseits so sexuell gebildet und auch im vorliegenden Roman so überlegt und einfühlsam vorgeht, hier zu keiner anderen Perspektive kommen kann. Sexpositive Erziehung und Recht auf kindliche Sexualität werden in pädagogischen Kontexten längst ganz anders diskutiert und auch umgesetzt, ohne Rückgriff auf solche „Argumente“, die für Missbrauch mehr als anschlussfähig sind.

So sehr ich viele Element des Romans liebe und bewundere, das macht sie mir kaputt.

Soll man das Buch lesen? Ich würde sagen; reinlesen, gucken, wie weit man mitgehen kann, ausprobieren. Es gibt viel Wunderbares zu finden und einiges ziemlich Finsteres. Was auf jeden Fall bleibt ist ein Roman auf höchstem erzählerischen Niveau, der wirklich transgressiv arbeitet und nicht bloß schocken und sein Personal erniedrigen will.

Ich bleibe auf jeden Fall bis zum Ende dabei und notiere, falls sich an meiner Einschätzung noch mal was ändert.

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