Rollenspiel mit Kindern — Erfahrungen aus einer Mausritter-AG.

Rollenspiel mit Kindern — Erfahrungen aus einer Mausritter-AG.

Allgemeines, Rahmen

Im Winter 2022/2023 leitete ich an der Berliner Grundschule eines freien Trägers eine Rollenspiel-AG mit dem System „Mausritter“. Die AG fand in Form des wöchentlichen Atelier-Tags statt, an dem die Kinder selbstgewählte Angebote sechs bis acht Wochen lang verfolgen. Ich habe das Angebot zwei mal gemacht, sodass innerhalb eines guten Vierteljahres zwei Gruppen mit jeweils zehn bis zwölf Kindern an der AG teilgenommen haben.

Es nahmen Kinder aller Klassenstufen (1-6) teil. Jungen waren deutlich häufiger vertreten als andere Geschlechter. Auf Nachfrage äußerten andere Kinder, sie hätten am Angebot und am Thema „Fantasy“ durchaus Interesse, aber „Jungen“ seien ihnen „zu laut bei solchen Sachen“ und wollten „immer nur kämpfen“. Diese Fragen des Sozialverhaltens waren in der AG Thema und ich habe natürlich so gut wie möglich versucht, alle Kinder einzubeziehen bzw. andere Kinder als Jungen aktiv für die AG anzusprechen. Trotzdem fand ich es interessant, dass die Kinder diese starke Wahrnehmung geschlechterspezifischen Verhaltens hatten und sie mit „Fantasy“ und „Rollenspiel“ verknüpften. Ich teile nach der AG den Eindruck, dass die beteiligten Jungen im Sozialverhalten rund um das Spiel dominanter und lauter waren, was von anderen als störend empfunden wurde.

Im Spielgeschehen habe ich keine geschlechterspezifischen Unterschiede wahrgenommen, weder hinsichtlich der Charakterwahl noch der Themensetzung noch des Verhaltens in der fiktionalen Welt.

Wir spielten einmal wöchentlich in zwei Blöcken von je 90 Minuten mit einer Stunde Pause dazwischen. Die Spielleitung übernahm zunächst ich als Erwachsener. Ich erklärte die Regeln und das Spielprinzip und leitete die Charaktererschaffung an. Die Kinder hatten keine Probleme, Spielprinzip und Regeln zu begreifen. Einige hatten bereits Rollenspiel-Vorerfahrung aus der Familie (D&D, DSA).

Regeln, Spielinhalten, Gruppenstruktur

Wir spielten gemäß des Mausritter-Regelwerks einen Hexcrawl/eine Sandbox mit nur schwachen Plotelementen. Ich hatte in der Vorbereitung verschiedene Aufträge auf der Karte platziert, die die Kinder mal annahmen, aber auch souverän ablehnten, wenn sie ihnen begegneten. Die Kinder verhandelten untereinander über Ziele und Wege auf der Karte und fühlten sich im Spielprinzip Hexcrawl meiner Wahrnehmung nach sofort zuhause. Sie schätzten Wege ab und planten Ressourcen (Nahrung, Transportmittel) für ihre Reisen, ohne dass ich das ausdrücklich verlangt hätte.

Nach einigen Sitzungen brachten Kinder Karten eigener fiktiver Länder mit und wollten gerne selbst die SL übernehmen. Es bildete sich eine separate Gruppe zumeist älterer Kinder, die eigenverantwortlich spielten. Ich gab drei Mal einen Input zur Spielleitung zu Beginn der Atelierzeit, einmal zu den Prinzipien ergebnisoffenen Leitens („ja,aber …“ /fail forward und Unterscheidung zwischen der Präsentation von Bedingungen des Handelns vs. Diktieren von Handlungsresultaten durch die SL), einmal zum sozialen Geschehen in der Spielgruppe und einmal zur konkreten Vorbereitung einer Sitzung/Ausgestaltung von Hexfeldern in Anlehnung an die „Mausritter“-Regeln.

Mein Eindruck durch Beobachtung und Zuhören war, dass die Kinder in der SL-Rolle diese größtenteils durch Beobachtung und Nachahmung von mir übernommen hatten. Die Kinder-SL improvisierten aber oft Monster und auch Belohnungen in Form von Schätzen in direkter Absprache mit der Gruppe („die haben jetzt wohl X Punkte“, „ich gebe euch jetzt ein Flammenschwert, weil das wäre ja cool …“), eine Diskussion über Spielinhalte und Regelbasis auf Augenhöhe, die alle offenbar völlig normal fanden.

Die Kinder verließen in ihrer Fiktion sehr schnell die Welt von Mausritter und reisten durch Portale in andere Welten, die sie meiner Beobachtung nach nutzten, um eine Pastiche von Medienwelten zu bespielen, die ihnen vertraut waren (Sammelkartenspiele, Videospiele, Serien und Filme). Es gab einen deutlichen Power-Creep, auch nach meinem Hinweis auf Spielbalance („wir machen dann einfach auch die Monster stärker“). Thematisch nutzte diese separate Spielgruppe das Medium Rollenspiel außerdem stärker zum Ausagieren von Machtphantasien, Überschreitung sozialer Normen und in sehr dezenter Form sexueller Inhalte (d.h. bloße Erwähnung). Trotzdem oder gerade deswegen erklärten alle Teilnehmenden, sich in der Gruppe wohlzufühlen und das Spielen zu genießen. Ich erkläre mir das so, dass diese tendenziell vorpubertären Kinder sich im Gruppensetting gewisser Normen vergewisserten und deren Grenzen/das persönliche Verhältnis dazu auf den Tisch brachten, wie es schließlich schon im kindlichen Rollenspiel üblich ist.

Die Resonanz auf das Angebot war sehr positiv. Es gab für den zweiten Zeitraum wesentlich mehr Anmeldungen, als zu bewältigen waren. Alle Kinder gaben sehr zufriedenes Feedback. Mehrere Teilnehmende erwarben das Spiel selbst oder nutzten den Download des Starter-Sets von „Mausritter“.

Konkrete Tipps zum Spiel mit Kindern

Spiel mit großen Gruppen

Im Schulsetting kann es nötig sein, mit Gruppen zu arbeiten, die größer sind, als man freiwillig wählen würde (Personalsituation, Angebotsgestaltung). In Anlehnung an die Frühzeit des Rollenspiels habe ich mir als SL von zeitweise zwölf Kindern mit folgenden Mitteln beholfen:

— Thematisieren der Situation mit den Kindern vorab (was brauchen wir, wie kann es funktionieren)

— in Entscheidungssituationen Ideen von allen einholen (mit Melden, reihum), dann Zusammenfassung und Formulierung der Alternativen durch mich, Abstimmung und Mehrheitsentscheid

— Rollenverteilung in der Gruppe (Funktionen wie Kartenzeichnerin, Notizenmacher, Sprachrohr…), Rotieren dieser Rollen.

— Spielprinzip Hexcrawl/Sandbox, keinen vorbereiteten Plot durchdrücken müssen, was entlastet und mir erlaubt, die Aufmerksamkeit auf die Gruppendynamik zu lenken.

— Begegnungen und Kämpfe mit improvisierten Karten und Props (Becher, Wolknäul, Pöppel, Stifte…) visualisieren, sodass die Kinder in einer anschaulichen, strukturierten Umgebung agieren können, kein bloßes theatre of mind → minimiert Erklärungsaufwand beim Aufbau des gemeinsamen Vorstellungsraums und verlagert die Aktion von mir zu den Kindern.

— Frühzeitiges Hinarbeiten auf Kinder als SL, Offenlegung meiner Methoden als SL (Begegnungstabellen, Erwürfeln von Gegnerverhalten aufgrund von Plausibilitätsabschätzung, Steuerung der Gegner bei Kämpfen, generell offenes Würfeln und laut Denken), Teilen meines Expertenwissens, Co-SL und schließlich Gruppen in Kinderregie.

Alle diese Methoden würde ich nach meinen Erfahrungen allgemein für das Spiel mit Kindern empfehlen, vor allem die Punkte Anschaulichkeit und Moderation von Entscheidungsprozessen.

SL als Moderation

Als SL einer Kindergruppe war ich sehr viel stärker mit dem Moderieren der sozialen Interaktion beschäftigt als bei Erwachsenen. Ich hatte das im Vorfeld unterschätzt und musste hier wirklich umdenken. Zu meinen Aufgaben gehörte neben der Präsentation der Spielwelt:

— Rahmenbedingungen (Raumvorbereitung, Snacks, frische Luft, Pausen, Stimmung und Aufmerksamkeit erfragen)

— Besondere kindliche Bedürfnisse im Blick behalten (Toilettengang, Klingel nicht gehört, Pokemon-Karten verloren …)

— Steuern von Redeanteilen

— Unterscheidung Figur-Spieler*in klären und immer wieder darauf hinweisen

— Streit schlichten, auch solchen, der gar nicht unmittelbar mit dem Spiel zu tun hat

— Vergewissern, dass alle Spielinhalte für Kinder verschiedener Altersgruppen okay sind. Jüngere Kinder kommen bei typischen Rollenspiel-Spannungssituationen wirklich noch ins Schwitzen, sorgen sich um ihre Charakter usw.

— Neuro/diversität im Blick behalten (Kinder mit psychologischen/psychiatrischen Diagnosen, körperlichen Einschränkungen, bekannt schwierigen Familiensituationen)

Mein Tipp ist hier, diese Rolle absolut in der Vordergrund zu stellen und genügend Vorbereitungs/Nachbereitungszeit einzuplanen. Es ist außerdem wichtig, Austausch mit den Kindern über Gefühle, Wünsche, Gruppendynamik zu institutionalisieren, etwa in Form von Feedbackrunden, und dafür Mechanismen zu etablieren, falls diese im Schulumfeld nicht ohnehin eingeübt sind. Rollenspiel ruft bei Kindern jede Menge Gefühle wach, die offen angesprochen werden müssen. Wer Runden mit Kindern vorbereitet, muss einen guten Teil des Planungsaufwands genau dafür verwenden.

Spezielle Themen im Umgang mit kindlichen Spieler*innen

Vermeintliche Zerstreutheit tolerieren

Gerade bei jüngeren Kindern ist es normal, dass sie die Aufmerksamkeit schweifen lassen, mit etwas herumfummeln, ein Nebengespräch führen oder aus dem Fenster gucken, um sich zu entlasten. Das ist nicht zwangsläufig ein Zeichen von Unzufriedenheit oder Desinteresse. Eine Nachfrage oder eine kurze Pause kann angemessen sein. Wenn Kinder bei der Entlastung andere stören, Alternativen anbieten, zB etwas knautschen, das keine Geräusche macht.

Pläne und Spielhandlungen, die vermeintlich keinen Sinn ergeben, nicht vorschnell abtun

Kinder haben mir oft Handlungen angekündigt, die ich zunächst überhaupt nicht verstanden habe. Fast immer hat sich durch Nachfragen gezeigt, dass das Kind einen Plan hatte, den es nur unzureichend formulieren konnte oder dessen Voraussetzungen mir nicht klar waren. Oft hilft die Frage: „was möchtest du erreichen?“ oder „wie willst du das genau anstellen?“ oder „was erhoffst du dir davon?“

Stillere Kinder ermutigen, aber nicht zwingen

Es kommt immer wieder vor, dass Kinder sich einige Zeit gar nicht äußern und scheinbar nicht (mehr) am Spielgeschehen teilnehmen. Auch das kann Entlastung sein, aber auch einfach eine Frage der Persönlichkeit oder der Tagesform. Manche Menschen sind einfach stiller. Das gilt auch für Kinder. Eine Nachfrage ist in Ordnung, aber man muss akzeptieren, wenn ein Kind wenig sagt, solange es zufrieden ist.

Grenzüberschreitungen in der Rolle zulassen und ggf. thematisieren, eigene Grenzen benennen

Wie oben angesprochen, ist kindliches Rollenspiel ein Medium, um soziale Normen und Verhaltensvorschriften durchzuspielen und abzuklopfen. Das zeigt sich auch im Fantasy-Rollenspiel, wo man ja tatsächlich Dinge tun und verkörpern darf, die in der Realität nicht akzeptiert sind (Gewalt, Konflikte mit dem Gesetz und Autoritäten, Stehlen, für manche Menschen/in manchen Kontexten Gender/sexuelles Verhalten).

Als begleitender Erwachsener habe ich mir Mühe gegeben, dieses Ausprobierverhalten nicht von vornherein abzuwürgen. Es war mir wichtig, darauf hinzuweisen, wenn es auftrat, und eigene Grenzen zu benennen (ich habe zB keine exzessive Gewalt oder Folter zugelassen). Es gab einen Fall, in dem ein älteres Kind in seiner Rolle eine sexuelle Anspielung gemacht hat, die einem anderen Kind unangenehm war, was ich zum Anlass genommen habe, noch einmal zu thematisieren, dass wir mit echten Menschen spielen, die sich von unserem Verhalten in der Fiktion getroffen fühlen können, was auch verstanden und akzeptiert wurde.

Hinsichtlich Gewalt habe ich innerweltliche Konsequenzen aufgezeigt (wie reagieren die anderen Wesen in der Welt, wenn sich rumspricht, wie ihr euch aufführt?). Anlässlich des Verhaltens von Mietlingen entspann sich ein interessantes Gespräch darüber, wie Menschen sich in realen Kriegslagen verhalten und unter welchen Bedingungen Menschen überhaupt bereit sind/waren, das eigene Leben aufs Spiel zu setzen – und dass Geld allein dafür möglicherweise nicht ausreicht. Die Kinder führten an anderer Stelle untereinander eine lange Diskussion, ob es gerechtfertigt sein kann, einer bösen Zauberin ein Eulenei zu überlassen, während die Eule sich bitterlich darüber beklagte („aber die Eule hat ja mehrere Eier!“ — „ich würde ja auch nicht bloß EINS meiner Geschwister abgeben wollen!“)

Mein Eindruck war, dass die Gruppe nur punktuell, dann aber sehr intensiv Rollenspiel genutzt hat, um moralische Fragen zu diskutieren. Dazu wäre es vermutlich nicht gekommen, wenn ich grenzüberschreitendes Rollenverhalten von vornherein sanktioniert hätte.

Fazit

Für mich war das Spiel mit den Kindern eine großartige Erfahrung, die mich begeistert hat wie lange keine Rollenspiel-Runde mehr. Es ist großartig, die Begeisterungsfähigkeit und die vielfältigen Ideen der Kinder zu erleben. Mich hat besonders berührt, wie junge Menschen ein Hobby neu entdecken, an dem ich schon alles zu kennen glaube, und bei dem ich oft das Gefühl habe, das mich nichts mehr überraschen kann.

Als Erwachsener war es heilsam für mich, noch einmal die sozialen und gruppendynamischen Aspekte von Rollenspiel vor Augen geführt zu bekommen und zu erleben, wie stark vermeintliche Randaspekte (Tagesform, Stimmung, Konflikte untereinander) das Spiel prägen. Wie so oft gilt, dass Dinge, die für Kinder gut funktionieren, sich auch für Erwachsene empfehlen. Sowohl die Begeisterungsfähigkeit und den unvoreingenommenen Zugang als auch die Achtsamkeit für das Miteinander nehme ich mit in meine erwachsenen Spielrunden.

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